25 Jahre nach der Wende haben wir es uns bequem gemacht in unserem Land mit
Meinungsfreiheit, Demokratie und Reisen, wann und wohin das Herz begehrt. Nur die Älteren
erinnern sich noch daran, dass es einmal anders war und welche Verhältnisse damals in der
DDR den Alltag beherrschten. Wenn nun zum 25-jährigen Jubiläum über den Mauerfall
berichtet wird, sehen wir meist nur die Bilder aus den Herbsttagen 89, als Hunderttausende
auf die Straßen gingen. Wie langwierig und schwierig der Weg bis zu jenen Ereignissen
jedoch war, davon wird seltener gesprochen. Mit der „Chronik zu Opposition und Widerstand
in der DDR vom August 1987 bis zum Dezember 1989“, deren erster Band gerade erschienen
ist, liegt nun eine umfangreiche Dokumentation vor, die den Weg von der Demonstration
am13. August 1987 an der Berliner Mauer bis zu jenen schicksalhaften Herbsttagen 1989
beschreibt. Taggenau und durch die zweispaltige Anordnung übersichtlich gegliedert, gibt sie
einen Überblick über die Ereignisse jener Zeit. Die Autoren Thomas Rudolph, Oliver Kloss,
Rainer Müller und Christoph Wonneberger waren damals selbst in kirchlichen Kreisen und
verschiedenen oppositioneller Bürger- und Menschenrechtsgruppen aktiv. Sie greifen
hauptsächlich auf Dokumente aus dem Archiv der Initiative Frieden und Menschenrechte
Sachsen e.V. zurück und legen damit einen Schwerpunkt auf den Leipziger Raum. Jedoch
spannt sich der Bogen der dokumentierten Ereignisse von der gesamten DDR über Osteuropa
und die Sowjetunion bis zu westlichen Organisationen, Medien und den politischen
Entwicklungen im deutsch-deutschen Verhältnis. Damit wird es dem Leser möglich, die
Dokumente und beschriebenen Ereignisse besser in die politischen Zusammenhänge der
damaligen Zeit einzuordnen und zu verstehen. Darüber hinaus werden in speziell
gekennzeichneten Abschnitten erläuternde Bemerkungen zum Kontext oder aus heutiger Sicht
eingeschoben. Zum Beispiel erfährt man so, wer von den handelnden Akteuren später als
Informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit enttarnt wurde.
Durch die Verwendung zahlreicher und vielfältiger Originaldokumente gibt das Buch einen
eindrucksvollen Einblick in die Atmosphäre und Stimmungslage der damaligen Zeit.
Während diejenigen, die dabei waren, vielleicht wieder die Beklemmungen und Sorgen
spüren, die sie angesichts von Verhaftungsmeldungen aus der Mund-zu-Mund-Propaganda
oder Westmedien empfanden, die Unruhe, die sie beschlich, wenn sie hörten, wer auch einen
Ausreiseantrag gestellt hat, werden die, die nicht dabei waren, sich ein sehr gutes Bild davon
machen, was die Akteure der verschiedenen Gruppen antrieb und umtrieb. Dabei werden
sowohl die Verflechtungen zwischen den einzelnen Gruppen, als auch Konflikte zwischen
ihnen sichtbar. Die beschwerliche, von vielen Diskussionen und Auseinandersetzungen
geprägte Suche nach Wegen im Kampf um mehr Freiheit und Selbstbestimmung in einem
demagogisch festgefahrenen Überwachungsstaat wird genau so gut nachvollziehbar, wie die
Rolle der wachsenden Zahl der Ausreiseantragsteller.
Neben der Chronik zu den zeitgeschichtlichen Ereignissen bis zum 28.11.1988, einem
Vorwort von Oliver Kloss und Rainer Müller und einer Zeittafel der wichtigsten Ereignisse
enthält der erste Band eine ausführliche Darstellung der Tätigkeit des Arbeitskreises
Gerechtigkeit und der Arbeitsgruppe Menschenrechte. Dabei wird der hohe Grad an
Organisation und Planung deutlich, mit dem diese Gruppen arbeiteten und die oppositionellen
Aktionen vorantrieben, aber auch der Mut und die Risikobereitschaft ihrer Mitglieder, die
ständig mit Festnahmen rechnen mussten.
Mit diesem Buch ist nicht nur eine eindrucksvolle Dokumentation der Entwicklung der
oppositionellen Bewegung in der DDR sowie der Ereignisse gelungen, die schließlich im
November 1989 zum Fall der Mauer führten, sondern durch die erläuternden und ergänzenden
Materialien und Texte ermöglicht es dem Leser, diese im geschichtlichen Kontext
einzuordnen und zu verstehen. Somit ist es besonders auch für jene geeignet, die diese Zeit
nicht unmittelbar miterlebt haben und erfahren wollen, wie der „Weg in den Aufstand“
verlief.
Antje Reiche, Oktober 2014