Britannien 810

Leseprobe Britannien 810

"Das Mädchen stand auf einem Felsen, der weit in das Meer hinein ragte. Immer wieder schaffte es die eine oder andere Welle, den harten Stein zu überschwemmen, doch das störte sie nicht: Sie war barfuß, hatte ihr leichtes Leinenkleid über die Beine nach oben gerollt und um die Hüften festgesteckt. Sie stand auf Zehenspitzen, die Arme über den Kopf erhoben und schwang ihren Oberkörper hin und her, als würde sie zu einer unhörbaren Melodie tanzen. Dabei lächelte sie versonnen. Der sommerliche Seewind spielte mit ihren langen, hellen Haaren und ließ diese wie eine Standarte flattern.

Ab und zu warf sie einen Blick zu Egbert von Leicester, ihrem persönlichen Leibwächter, der trotz der milden Wärme schwere Lederstiefel, eine wollene Reiterhose, eine dicke Tunika und ein Kettenhemd trug. Lediglich den eisernen Helm hatte er abgesetzt und die Handschuhe ausgezogen, doch sein Langschwert baumelte griffbereit an seinem Gürtel. Er lehnte nicht weit von seiner Herrin Ellwydd, der einzigen Tochter des Hochkönigs Cumbrae von Northumbria, an einem der kleineren Felsen am Strand und beobachtete die für ihr Alter immer noch oft verspielt anmutende Fünfzehnjährige.

Seinen langen, dunkelbraunen Haarschopf hatte er zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden. Ganz entgegen der angelsächsischen Sitten dieser Tage trug er keinen üppigen Bart, sondern scherte sich die wuchernden Gesichtshaare nach der alten römischen Tradition einmal am Tag. Mit seinen knapp fünfundvierzig Jahren war er ein kampferprobter Veteran, der sein halbes Leben auf Schlachtfeldern und in Kriegslagern verbracht hatte. Er wusste, wie eine zu üppige Gesichtsbehaarung ihren Träger im Feld peinigen konnte, vor allem, wenn jede Möglichkeit fehlte, sie regelmäßig zu säubern.

Sein derzeitiger Auftrag, der einzig darin bestand, das Leben von Ellwydd zu beschützen, ließ ihm aber eine Menge Zeit für die Körperpflege: Im Grunde hätte Egbert seinen Bart also ohne Bedenken wachsen lassen können. Er und die ihm anvertraute Königstochter befanden sich zudem an einem der sichersten und bestversorgten Orte in ganz Northumbria: Auf der Klosterinsel Lindisfarne, die nach dem Überfall durch die Nordmannen vor siebzehn Jahren wieder aufgebaut und stark befestigt worden war. Überdies wurde die gesamte Ostküste von den Reitern aus Bernica geschützt; es hatte in diesem Gebiet seit mehr als zehn Jahren keinen einzigen erfolgreichen Raubzug der Seekrieger aus dem Norden mehr gegeben."

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